Es war einmal vor sehr langer Zeit, da gab es in einem Land eine Kugel aus purem Gold. Jeder, der sie erblickte, war voll der Bewunderung und des Lobes ob dieser vollendeten Handwerkskunst. Sie galt als strahlendes Zeichen für Klarheit und reinem Wissens. Das gemeine Volk sagte dieser Kugel sogar Wunderkräfte nach.
Die Jahre des Glücks vergingen, dunkle Zeiten brachen an. In deren Wirren und Wandlungen die goldene Kugel verloren ging. Diejenigen, wenigen, die über die Kugel gewacht hatten starben und die Kugel verschwand. Niemand sah sie mehr – niemand suchte nach ihr.
Jedoch erinnerte sich manch einer dunkel an die Wunderkräfte dieser Kugel und man fragte nach ihr, um an ihrer Wunderkraft wieder teilhaben zu können. Nach einer Weile wurden die Nachfragen immer lauter und lauter. Die neuen Fürsten, die nichts von der Glorifizierung der goldenen Kugel hielten und die dereinst gar nicht so unglücklich darüber gewesen waren, dass die goldene Kugel verschwunden war, mussten etwas tun, wollten sie sich nicht den Unmut des Volkes zuzuziehen.
So ließen sie eine neue goldene Kugel herstellen. Da sie aber in diese weder viel Zeit, noch viel Geld investieren wollten, begnügte sie sich damit, eine Kugel, mit einem Kern aus Holz und einer Ummantelung aus Gold herstellen zu lassen. Das gemeine Volk merkte den Schwindel nicht und glaubte die alte Kugel mit den Wunderkräften sei wiedergefunden worden.
Die Zeit verging. Die Fürsten gingen nicht sehr pfleglich mit der neuen Kugel um, es war ihnen zu viel Arbeit. Durch Unachtsamkeit fiel die Kugel immer wieder zu Boden und die Goldbeschichtung bekam Riefen und Schrammen. Damit sie aber dennoch in schönem Glanze erstrahlte, gab man den Handwerkern die Anweisung sie immer wieder abzuschleifen.
Dadurch wurde aber die Goldschicht immer dünner und dünner. Irgendwann schimmerte plötzlich das Holz durch. Um dies vor dem gemeinen Volk zu verbergen, entschlossen sich die Fürsten die Beschichtung erneuern zu lassen. Da für sie die Bedeutung der Kugel im Laufe der Zeit immer weiter gesunken war, gaben sie, unter dem Siegel der Verschwiegenheit, die Anweisung anstelle des Goldes Messing zu verwenden.
Man polierte die Kugel so geschickt, dass sie wie Gold glänzte und man konnte die Menschen, die immer noch die wahre goldene Kugel mit den Wunderkräften vermuteten, erneut täuschen. Sie ließen sich auch nur allzu gern täuschen, war doch ihre Erinnerung an die wahre Kugel verblasst und nur noch der Glaube daran vorhanden.
Die neuzeitlichen Bewahrer der Kugel, die nichts mehr von der vergangenen goldenen Kugel und ihrer wahrhaftigen Wunderkraft wussten, machten sich so lange vor, dass IHRE Kugel diese ursprüngliche Kraft in sich trüge, bis sie selbst daran glaubten. Und sie verbreiteten ihren Glauben, der zur unumstößlichen Lehre erhoben wurde. Das Volk aber, bequem geworden, schloss sich dieser Lehre nur allzu gerne an.
Die wahre goldene Kugel mit den Wunderkräften aber, sie liegt noch irgendwo da draußen und wartet auf ihre Wiederentdeckung und ihre ruhmreiche Auferstehung.
Was das nun mit der Reiterei und der Reitkunst zu tun hat? Nun, das darf sich der geneigte Leser selbst beantworten.
Autor: Richard Vizethum | Der letzte Stallmeister | Schule der Hippologie | 2019
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