Die Bergziege

Aus der Rubrik: IRRUNGEN IN DER MODERNEN PFERDEARBEIT

Das Pferd wurde nach einem Foto gezeichnet

Es war im Grunde der RÜCKENWAHN, der diese „zirzensische“ Übung – natürlich auf Umwegen – hervorgebracht hat. Eine „Übung“, welche genauso nutzlos, wie gesundheitsschädlich für das Pferd ist. Im Folgenden möchte ich dies näher erläutern.

Wofür soll die Bergziege eigentlich gut sein?

Um dies etwas zu erhellen, möchte ich einfach mal drei Web-Site-Einträge von Ausbilderinnen zitieren, die diese „Übung“ empfehlen und praktizieren:

1 | „… ist aber ein ideales Training für die Rücken- und Bauchmuskulatur deines Pferdes“.

2 | „Bergziege wird eine klassische Zirkuslektion genannt, bei der das Pferd seine vier Beine unter dem Körper versammelt. So stehen die vier Beine von der Seite betrachtet V-förmig, der Rücken ist aufgewölbt und die Oberlinie maximal gedehnt. Die Bergziege ist eine Koordinations-  und Dehnungsübung.

3 | „Die ‚Bergziege‘ kann beispielsweise eine tolle Vorbereitung sein, um Deinem Pferd eine bessere Idee davon zu vermitteln, mehr Last auf die Hinterhand aufzunehmen und so zum Beispiel eine gesetztere Piaffe zu zeigen“.

Der Rücken spielt bei diesen Gründen eine zentrale Rolle. Deshalb hier ein kurzer Exkurs zu dem, was ich gerne als den Rückenwahn bezeichne …

Wie viele, für das Pferd schädliche Übungen, hat auch die BERGZIEGE ihre „intellektuelle“ Grundlage im RÜCKENWAHN, der zu Anfang des 20. Jahrhunderts sich zu verstärken begann und durch einige „prominente“ Reiter wie Dr. Udo Bürger (Als Oberstveterinär war er Leitender Veterinär-Offizier in den Jahren 1935/36/37 an der Kavallerieschule in Hannover) oder Paul Plinzner (1855 – 1920) „vertreten“ wurde. Beide seien hier – aufgrund ihres Einflusses auf die neuzeitliche Reiterei – lediglich exemplarisch genannt.

Der Rücken sollte sich AUFWÖLBEN, so die Kernaussage des RÜCKENWAHNS.

Auch wenn es damals noch ein paar vernünftige Offiziere, wie Oberleutnant Knebusch gab, die dieser Verrücktheit eines aufgewölbten Rückens widersprachen:

Zu diesem Kapitel gehört auch die ‚elastische Rückenaufwölbung‘ Plinzners. Er meint, der Rücken müsse sorgfältig tragfähig gemacht werden, weil das Soldatenpferd mit Reiter und Ausrüstung wenigstens zwei Zentner tragen müsse. Das sei eine Hauptaufgabe der Ausbildung und diese sei nur zu lösen, wenn man das Pferd veranlasse, den Rücken aufzuwölben. Er übersieht hierbei, dass diese Aufwölbung etwas Krampfhaftes, Gespanntes ist, ein Zustand, den das Pferd nur durch falsche Inanspruchnahme der Muskeln aufrecht erhalten kann. Für kurze Augenblicke lässt sich das leisten; für die Dauer aber muss es versagen.[1]

Jedoch schenkte man seinen Worten kein Gehör – das Fliegen-Mistprinzip setzte sich auch hier durch.

Eine gewisse „Mitschuld“ am Entstehen des RÜCKENWAHNS könnte man auch Gustav Steinbrecht[2] einräumen, da man aus dem folgenden Zitat, leicht den „Wunsch“ nach einem aufgewölbten Rücken herauslesen könnte – wenn – ja wenn man den letzten Satzteil geflissentlich überliest oder fehlinterpretiert:

„Wie der Lastträger die schwere Last nicht mit durchgebogenem, sondern mit gekrümmten Rücken ohne Gefahr für seine Gesundheit trage kann, weil eine gewölbte Stütze besser trägt als eine gerade, so wird das Pferd die ungewohnte Last zunächst mit krummen Rücken aufnehmen, bis sie ihm durch Übung und Gewohnheit keine Last mehr ist.[3]

Natürlich haben diese Herrschaften, dies will ich ihnen zugutehalten, nicht an die Pervertierung der „Rückenaufwölbung“ durch eine „Übung“ wie die „Bergziege“ gedacht. Plinzner beispielsweise, rollte zu diesem fragwürdigen Zweck (Rückenaufwölbung) seine Pferde ein – dies sei nur am Rande erwähnt).

Nun aber zurück zur „Bergziege“ und warum man diese überhaupt nicht praktizieren sollte …

Wer nur Ansatzweise etwas von Anatomie beim Pferd versteht, könnte bei einem kritischen Blick auf ein Pferd in „Bergziegen-Haltung“ die Problem schnell und unschwer erkennen. Wer davon nichts versteht, praktiziert halt diese gesundheitsschädliche „Übung“ im Zweifel weiter.

Ich beginne aber erstmal mit den zweifelhaften Nutzenversprechen, die man der „Bergziege“ neuzeitlich zuschreibt.

Da wäre einmal die in Literatur und neuzeitlicher „Lehre“ omnipräsente AUFWÖLBUNG DES RÜCKENS.

Doch kann sich der Rücken überhaupt AUFWÖLBEN?

Nein, kann er nicht – zumindest nicht so, wie man sich dies gemeinhin vorstellt!

Auch nicht durch noch so tiefe Dehnungshaltung – oder Vorwärts-Abwärts. Allenfalls kann er sich, nachdem der Pferderücken, zu Beginn der Ausbildung des Pferdes, bei der „Gewöhnung an das Reitergewicht“, durch das Reitergewicht geringfügig abgesenkt wurde[4] , durch das Vorziehen der Dornfortsätze des Widerrists, welche aber durch die Gegenbewegungen der Rippen sehr limitiert ist, wieder auf seine NATÜRLICHE LAGE „erheben“.

Das sagten übrigens auch Dr. Udo Bürger und Prof. Dr. Dr. Otto Zietzschmann in ihrem gemeinsamen Buch „Der Reiter formt das Pferd“:

„Werden also die Dornfortsätze nach vorn aufgerichtet, so müssen ihnen die Rücken- und Lendenwirbel nach vorn und oben folgen. Damit wird der Rücken gehoben, d.h. er kommt in seine natürliche Lage zurück.[5]

Darüber hinaus sei angemerkt, dass der „Rücken“ sich nur an zwei Stellen überhaupt „aufwölben“ kann: eben 1. am Widerrist und 2. am Übergang zwischen Rücken- und Lendenwirbelsäule. Beide „Aufwölbungen“ aber führen gleichzeitig zu Absenkungen. Wölbt der Widerrist auf, senkt sich der Brustkorb, wölbt der Lendenbereich auf, senkt sich die Hinterhand, so entsteht der optische Eindruck, der RÜCKEN (also das Mittelteil des Rückens) hätte sich aufgewölbt (wie man dies beim Bild der BERGZIEGE zu erkennen glauben mag), was aber nicht der Fall ist!

Das durch diese „Übung“ ein gewisses TRAINING DER BAUCHMUSKULATUR stattfindet, dem möchte ich nicht wiedersprechen, jedoch ist ein solches Bauchmuskeltraining durch die gesundheitsschädlichen Nachteile der BERGZIEGE bitter erkauft und es gäbe dazu weit bessere Alternativen!

Die Idee, dass durch die BERGZIEGE eine verbesserte LASTAUFNAHME DURCH DIE HINTERHAND trainiert werden könnte, kann man getrost in die Mottenkiste groben Unfugs ablegen und vergessen. Die Gründe, dass eben keine gesunde Lastaufnahme durch die Hinterhand stattfinden kann, sind in der Streckung der Beine der Hinterhand zu finden (siehe FEHLBELASTUNG VON GELENKEN UND BÄNDEN).

Nun aber zur Schädlichkeit der BERGZIEGE …

1 | FEHLBELASTUNG VON GELENKEN UND BÄNDERN | Hierzu betrachten wir einfach mal die Zeichnung (siehe Beitragsbild). Durch die V-Stellung der Beine bei der BERGZIEGE werden die schwächeren unteren Gelenke (orange Punkte) der Vorhand (Karpal- und Fesselgelenke) und der Hinterhand (Sprung- und Fesselgelenke) gegen ihre Beugerichtung (blaue Pfeile) mit dem, nun auf verkleinerter UNTERSTÜTZUNGSFLÄCHE wirkenden, stark nach unten drückender Last (dicke rote Pfeile) be- und überlastet! Schädigungen dieser Gelenke sind damit vorprogrammiert! Auch die Bänder werden dabei stark strapaziert. Die Gefahr von Durchtrittigkeit oder einer Verstärkung bereits vorhandener Durchtrittigkeit in der Hinterhand ist im hohen Maße gegeben.

2 | DAUERSTRESS FÜR DAS REAKTIONSSYSTEM | Die Verteilung der Gesamtmasse des Pferdes auf die stark verkleinerte UNTERSTÜTZUNGSFLÄCHE sorgt für einen enormen Balancier-Stress (psychischer und physischer Stress), der nicht dazu führt, dass das Pferd eine bessere Balancierfähigkeit erlangt, sondern nur im Rahmen dieser „Übung“ lernt etwas länger zu stehen lernt. 

Wer seinem Pferd aktuell die BERGZIEGE abverlangt, oder mit dem Gedanken spielt, diese zu erarbeiten, sollte sich diese letzten beiden, von mir genannten Punkte aufmerksam durchlesen und sich dann ernsthaft die Frage stellen, ob ein billiger SHOWEFFEKT (denn gymnastizierungstechnisch ist diese „Übung“ weitgehend nutzlos) es wert ist, die Gesundheit seines Pferdes aufs Spiel zu setzen!


Autor: Richard Vizethum | Der letzte Stallmeister | Schule der Hippologie


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[1] Oberleutnant Knebusch | „Die Spannung im Pferd und die Mittel sie zu  beseitigen“ |  Verlag von Schickhardt & Ebner (Konrad Wittwer) 1911 | 43. Heft | Teil eines Nachdrucks Olms-Verlag 1992 | Seite 9

[2] Anzumerken sein hier, dass es Paul Plinzner (Schüler von Steinbrecht) war, der Steinbrechts „Gymnasium des Pferdes“ auf Grundlage der Notizen von Steinbrecht verfasste und dabei sicherlich Eigeninterpretationen hat mit einfließen lassen.

[3] Gustav Steinbrecht | „Gymnasium des Pferdes“ | 16. Auflage 1995 (1. Auflage 1884) | Verlag Dr. Rudolf Georgi, Aachen | Seite 69

[4] Meist ist dies auch nur der optische Eindruck bedingt durch eine nach hinten ausgestellte Hinterhand und damit angehobenen Kruppe, die einen abgesenkten Rücken erkennen lassen will.

[5] Dr. Udo Bürger, Prof.Dr.Dr. Otto Zietzschmann | „Der Reiter formt das Pferd“ | 3. Auflage – Nachdruck 2010 | FN-Verlag Warendorf | Seite 19

Aufrichtung – Der Irrglaube der Moderne

Aufrichtung – Der Irrglaube der Moderne

LEHRE VOM GRALSWEG – Aus dem Kapitel: „Wege und Irrwege der Aufrichtung – Teil 4“

Die moderne Reiterei, die sich gerne den Anstrich der „Klassik“ und der „Unumstößlichkeit“ ihrer Lehre gibt, sich dabei auf die D.V.E 12 von 1912 bzw. die HDv 12 von 1937 bezieht – was zumindest nicht ganz schlecht wäre – basiert letztendlich bei, näherer Betrachtung vermehrt auf der Neo-Naturreiterei eines Frederico Caprilli.  

Diese moderne Reiterei nun sitzt dem irrigen Glauben auf, dass man ein Pferd, nur von HINTEN nach VORNE arbeiten müsse, damit es sich vorne RELATIV, wie man diese Form der Aufrichtung nennt, aufrichten würde.

Die relative Aufrichtung (s.d.), deren äußeres Merkmal ein Höhertragen von Hals und Kopf infolge Senkung der Hinterhand ist, …[1]

Diese Aussage von Waldemar Seunig ist nur zum Teil korrekt. Der Gedanke, dass das alleinige Senken der Hinterhand die Vorhand anheben und eben damit diese RELATIVE AUFRICHTUNG erreichen würde, ist nur dann möglich, wenn man auf ein Vorwärts der Pferde und eine übermäßige Trittlänge der Hinterhand verzichtet und wie bei den akademischen Meistern (Pluvinel, de la Guérinière …), die Bewegungen in den Grundgangarten (Schritt, Trab, Galopp) ausschließlich auf die mit stark gesenkter Hinterhand ausgeführten Schulformen dieser Gangarten beschränkt.

Allerdings verkörperte Waldemar Seunig, auch reiterlich-intellektuell, bereits verstärkt eine Reiterei (anglomane[2] (Natur)Reiterei), welche auch schon zu seiner Zeit meilenweit von jener der alten Akademiker und der preußischen Kavallerie zu Zeiten Friedrichs des Großen und seines Kavallerie-Generals von Seydlitz-Kurzbach sowie deren genialen Stallmeistern entfernt war.

Diese Entwicklung hatten im Wesentlichen zwei Gründe.

Zum einen, machte eine Verbesserung der Waffentechnologie (größere Schussreichweiten bei den Kanonen und Repetierbarkeit bei den Handfeuerwaffen), aber auch eine Veränderung der Infanterie-Taktik (von der Linienformation vermehrt zum Karree[3]) neue Strategien und Einsatzspektren für die Kavallerie notwendig. Den Pferden wurde ein stärkeres VORWÄRTS abverlangt und der Galopp wurde zur Hauptgangart.

„Die dritte Anforderung, die höchstmögliche Schnelligkeit, findet sich in den von uns zu reitenden Tempos begründet, wie sie durch das Reglement vorgeschrieben sind. Wenn die frühere Normal-Attacke 200 bis 250 Schritt[4] im Galopp vorschrieb, so hatte dies in dem damaligen Infanterie-Gewehr seinen Grund; bei den jetzigen weittragenden Präzisions-Waffen kommen wir jedoch auf 800 bis 1000 Schritt in eine derartige Feuer-Sphäre, welche von uns den langen allongirten[5] Galopp verlangt, Wenn wir nicht physisch und moralisch auf das Aeußerste geschwächt an den Feind kommen wollen, wo von das Mißlingen der Attacke die unbedingte Folge ist“[6].

Zum anderen verbreitete sich die anglomane Reiterei, welche weniger auf eine gymnastizierende Ausbildung der Pferde Wert legte und mehr dem naturreiterlichen Credo folgte: „das Gelände wird es schon richten“, wie eine Seuche – ab Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkter – auf dem Kontinent und machte auch vor der Kavallerie nicht halt.

Das Ziel jeder Ausbildung ist, Pferd und Reiter zum Ritt querfeldein zu befähigen. Jagdspringen auf Turnierplätzen sind Vorbereitungen zum Querfeldeinritt. Niemals kann ein Turnierplatz so viel mannigfaltige Natürlichkeit bieten wie das freie Gelände. Für den ausgebildeten Reiter wird es kaum unüberwindliche Hindernisse geben, wenn er sich selbst und sein Pferd genügend geschult hat. Das Ueberwinden steilster Kletterpartien auf- und abwärts, breiter Gräben mit sumpfigen Rändern, selbst das Springen von Drahtzäunen kann durch Ausbildung erreicht werden.[7]

Wie man es den Worten des Freiherrn von Langen entnehmen kann, stellt diese (anglomane) Reiterei stärker den schneidig-sportlichen Aspekt (Jagdreiten, Springreiten, Rennreiten) in den Vordergrund und hat nichts am  Hut mit feiner Reitkunst oder Kavallerietaktiken, die umfangreich und fein ausgebildete Pferde erforderlich machten. Auch die Gesundheit der Pferde spielte und spielt in dieser modernen Reiterei nur eine sehr untergeordnete Rolle.

Diese neuzeitliche Gedankenkombination von Wissensfetzen: Beugung der Hinterhand (historische Form das Pferd vorne [relativ] aufzurichten) bei gleichzeitig stärkerem Vorwärts (moderne Anforderung an die Kavallerie), welche u.a. auch Waldemar Seunig sichtbar unreflektiert zusammensetzte, führt zu einer physikalische Unmöglichkeit, welche aber munter ignoriert wird, um den Traum einer RELATIVEN AUFRICHTUNG träumen zu können.

Das stärkere Vorwärts macht eine tiefe, gleichmäßige Durchbeugung der Hinterhand – Voraussetzung für eine RELATIVE Anhebung der Vorhand – völlig unmöglich und führt beim verzweifelten Versuch solche dennoch zu erreichen, zu gesundheitsschädlichen Methoden und dadurch bedingt vermehrtem Pferdeverschleiß!

Statt einer gleichmäßigen und deutlichen Durchbeugung der Hinterhand, mit der man bei den alten akademischen Meistern ein Pferd relativ aufrichten konnte, welche aber bei vermehrtem Vorwärts nicht möglich ist, versuchte man stattdessen nun die Hinterhand der Pferde immer weiter und weiter vortreten zu lassen.

Während die alten preußischen Stallmeister das „Gleichgewicht“ der Pferde darin erreicht sahen, dass die Hinterhand lediglich in den Hufabdruck der Vorhand tritt – dies aber auch nur dann, wenn die RÜCKENLINIE[8] des Pferdes bereits durch korrektes Aufrichten der Vorhand und leichter Senkung der Hinterhand (Arbeit von VORNE nach HINTEN und Lösen von Spezialaufgaben), in die Waagerechte gebracht werden konnte, sprach wiederum Waldemar Seunig davon, dass das Hinterbein der Pferde bis zu 1 ¼ Tritte[9] (!) über den Hufabdruck des Vorderbeines vortreten sollte.

Dies bewirkt zwar eine Beugung der Hanken[10], da sich bei diesem Vortritt des Hangbeins[11] das Knie soweit anhebt, dass der Hüftgelenkswinkel spitz wird. Allerdings werden dabei die unteren, schwächeren Gelenke (Sprung- und Fesselgelenke) gegen ihre Beugerichtung gestreckt, was Überlastungen dieser Strukturen vorprogrammiert. Physikalisch ist dieser Hebel nicht in der Lage, das Pferd vorne (relativ) anzuheben! Diese Pferde werden stattdessen – gesundheitsschädlich – hinten tiefer gelegt. Vorne bleibt das Pferd aber „auf der Vorhand“.

Hätte Seunig den Steinbrecht, auf den er sich oft bezieht, auch wirklich intensiv gelesen, wäre ihm der  Passus aufgefallen, in dem Steinbrecht davon spricht, dass, je weiter ein Pferd mit der Hinterhand vortritt, es umso vermehrter auf die Vorhand kommt![12]

Hinzu kommt noch, dass das moderne Vorwärts-Abwärtsreiten (auch in Dehnungshaltung) den Rumpfträger „ausleiert“ und Muskelgruppen fördert, welche bei korrekter Aufrichtung eigentlich „zurückgebaut“ werden müssten. Schmerzen in der Oberhals- der Nackenmuskulatur und dem Ober-Arm-Kopfmuskel sind vorprogrammiert.

Ein echtes AUFRICHTEN, bei dem der Buggelenkswinkel stumpf wird, sich also der Querarm (Oberarm) muskulär „konserviert“ vorne anhebt, das Buggelenk auf Höhe des Hüftgelenkes gebracht wird und die Winkel von Bug- und Hüftgelenk nahezu gleichwinkelig werden, so dass diese sich die Kräfte balancierter „zuwerfen“ können, kann es über die Methoden der modernen Reiterei NICHT geben!

Die heutigen Pferde, dies kann man auch in den höchsten Klassen der Dressur deutlich erkennen, kommen in ihrer „Aufrichtung“ so gut wie nie über die NATÜRLICHE HALTUNG und eine vorwärts-abwärts geneigte Rückenlinie hinaus.

Für die alten preußischen Stallmeister war diese Haltung, die das NATÜRLICHE PFERD, noch ungeritten, beim zwanglosen Bewegen von A nach B (und ohne die Nase durch einen Reiter – wie es heute geschieht – an die Senkrechte gezwungen zu bekommen), die von ihnen sogenannte und beschriebene TIEFE aus der heraus sie dann erst die Pferde aufzurichten begannen.

Leider meinte manch neuzeitlicher und heute hochgeschätzter „Meister“, in einem Irrglauben, die TIEFE wäre erst dann erreicht, wenn die Pferde mit der Nase am Boden schnüffeln würden – wie Jagdhunde oder Trüffelschweine. Aus dieser trainingstechnisch fragwürdigen und das Pferd demütigenden Haltung entwickelte sich die Vorwärts-Abwärts-Reiterei, die es davor zu keiner Zeit – und dies aus gutem Grunde – gegeben hat und die von hervorragenden Kavalleristen wie dem Generalmajor Carl Johann von Schmidt (1817 – 1875), auf das Allerschärfste verurteilt worden wären, da der Verlust an Pferden in der Kavallerie (schon in der Alltagsarbeit) durch eine solche Form der „Reiterei“ erheblich gewesen wäre!

Schon das zu seiner Zeit – und ohne Vorwärts-Abwärts – immer mehr zunehmende Galopptraining unter Reduzierung der dressurmäßigen Gymnastizierung der Pferde, führte zu einem hohen Pferdeverschleiß, was ihn veranlassten 1874 einen Bericht an die Armeeführung zu schreiben, in dem er forderte zu den Grundsätzen und Regeln der altpreußischen Dressurmethoden zurückzukehren:

„Das die Pferde vornehmlich im Winter-Halbjahr, und sodann fortgesetzt während der Sommerübungen, nach den Grundsätzen und Regeln der altpreußischen Dressurmethoden[13] in die ihrem Gebäude angemessene, richtige Haltung, Aufrichtung, Beizäumung und Versammlung gesetzt worden sind, dieselben sich nicht schwer auf die Zügel legen und nicht fest in der Hand ihrer Reiter, sondern in allen Theilen weich und nachgiebig sind, und ihre Hinterhand gebogen[14] und untergeschoben worden ist, damit dieselbe im Stande ist, vermöge ihrer Elastizität und Spannkraft das Gewicht und die Stöße elastisch aufzunehmen, und dadurch die Vorderfüße zu schonen und zu erleichtern.[15]

Leider verstarb dieser General, dessen Worte weit über die Kavallerie hinaus Gewicht hatte, ein Jahr später, im Jahre 1875, so dass es für ihn keine Möglichkeiten mehr gab, diese Forderung durchzusetzen – sehr zum Leidwesen der Pferde!


Autor: Richard Vizethum | Der letzte Stallmeister | Schule der Hippologie


[1] Waldemar Seunig | „Von der Koppel bis zur Kapriole. Die Ausbildung des Reitpferdes“ | 4. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1943 | Georg Olms Verlag AG – Berlin | 2015 | Seite 184

[2] ANGLOMANIE, bedeutet die übertriebene Nachahmung alles Englischen.

Dies darf zunächst einmal als ein Kompliment für die englische Lebensart angesehen werden. Bezogen auf die Reiterei wurde darunter die Leidenschaft der Engländer für das Jagd-, Spring-, und Rennreiten verstanden. Eine Leidenschaft, welche sich mehr und mehr über England und Kontinentaleuropa hinaus ausbreitete. In England und Irland führte dies zu einer Verbesserung der Pferdezucht (Englisches Vollblut …), welche die schlechte Ausbildung der Pferde durch unzureichend gebildete Reiter kompensieren sollte.

[3] Ein KARREE (von französisch Carré, „Quadrat“) war im Militärwesen vom 17. bis vermehrter ins 19. Jahrhundert hinein eine Gefechtsformation der Infanterie mit nach vier Seiten hin geschlossener Front zur Abwehr von Kavallerie. Das Karree bot einen wirkungsvollen Schutz gegen Kavallerieangriffe, da es keine ungeschützte Flanke aufweist.

[4] Schritt ist ein Längenmaß  und entspricht 75,325 cm (Alter preußischer Schritt). Die angegebenen 200 Schritt beispielsweise sind umgerechnet 150,65 Meter. Die genannten 800 Schritt entsprechen 602,6 Meter. Diese 800 Schritt musst nach neuen Richtlinien ein Pferde pro Minute im Galopp zurücklegen (entspricht 36,2 Km/h). Ursprüngliche waren dies 500 Schritt (376,63 Meter oder 22,6 Km/h).

[5] Allongirt = gestreckt (z.B. starker Galopp, Carriere …)

[6] Generalmajor Carl von Schmidt |“Instruktionen des Generalmajors Carl von Schmidt, betreffend die Erziehung, Ausbildung, Verwendung und Führung der Reiterei“ | 1876 geordnet und in wortgetreuer Widdergabe der Originalien zusammengestellt durch von Bollard-Bockelberg | Verlag Ernst Siegfried Mittler und Sohn | Seite 3

[7] Carl-Friedrich Freiherr von Langen | „Reiten über Hindernisse“ | 1931 | Nachdruck Olms-Verlag 1996 | Seite 36

[8] RÜCKENLINIE: Es werden hier nur die Wirbelkörper der Wirbelsäule ohne obere Dornfortsätze betrachtet.

[9] Quelle wird nachgereicht

[10] Hanken nach der Lehre vom Gralsweg: Hüftgelenkswinkel (Kreuzbein – Hüftgelenk – Kniegelenk. Das Sprunggelenk wird nicht dazugezählt (dies führt zu fehlerhaften Methoden bei der Ausbildung der Hankenbeugung.

[11] Vorschwingendes Hinterbein

[12] Quelle wird nachgereicht

[13] General von Schmidt spricht sich hier für die altpreußischen Dressurmethoden von vor 1806 und im Grunde noch etwa bis 1848 aus.

[14] Der Begriff „Biegen“ bedeutet: das Biegen in den Gelenken, Genick, Rücken und Hinterhand und geringgradig das seitliche Biegen, welches man neuzeitlich diese Begriff zuschreibt und damit den ursprünglichen Begriffsinhalt konterkariert.

[15] Kaehler | „Die preußische Reiterei von 1806 bis 1876 in ihrer inneren Entwicklung“ | 1879 | Verlag Ernst Siegfried Mittler und Sohn | Nachdruck Europäischer Geschichtsverlag 2015 | Seite 330f