Der Weg zur Reitkunst – Reitkunst ist der Weg

Autor: Richard Vizethum | Schule der Hippologie | Der letzte Stallmeister | Denkender Reiter

Kann man die „Reitmeister“ der Vergangenheit eigentlich unter dem „gleichen“ Begriff der REITKUNST subsummieren?

Um diese Frage zu beantworten bedarf es einer klaren Definition dessen, was man unter REITKUNST verstehen kann. Würde man heute diese Frage in einer Runde stellen, dann würde die einhellige Meinung vorherrschen, dass REITKUNST sich in jenen überzeichnenden Pferdebewegungen, Piaffen, Passagen, … oder sogar SCHULEN über der Erde ausdrückt. Doch dieses sind lediglich die Produkte einer KUNST.

Der Mensch bequem („Alles was lebt ist faul!“) versucht nun, solcherlei  Produkte zu erschaffen, ohne dabei die KUNST, die zu ihnen hinführt wirklich zu verstehen. Diese KUNST wahrhaftig zu beherrschen und vor allem weiterzuentwickeln war und ist nur sehr wenigen Menschen – den wahrhaft DENKENDEN REITERN – vorbehalten.

REITKUNST ist die körperliche und geistige Formung (UMFORMUNG) eines Lebewesens. REITKUNST bevorzugt oder benachteiligt dabei keine Rassen und Charaktere. REITKUNST schreckt auch nicht vor körperlichen Unzulänglichkeiten der zu formenden „Masse“ zurück. REITKUNST ist bestrebt, jedes „Ausgangsmaterial“ zur Vollkommenheit zu bringen. Einer Vollkommenheit, die nicht eitlem Selbstzweck dient, sondern darauf abzielt, dass es dem Pferd jene Form gibt, in der es sich optimal und energiesparend bei allen noch so hohen Leitungsanforderungen bewegen und dabei ein möglichst langes Pferdeleben lang gesund bleiben kann. 

Diese Begriffsdefinition von REITKUNST stellt den Kulminationspunkt seiner begrifflichen Entwicklung dar. Die LEHRE VOM GRALSWEG wiederum den Kulminationspunkt der Wegbeschreibung dieser KUNST.

Die Völker, welche Pferde zum ersten Mal zu Reitzwecken nutzten, machten sich noch keine Gedanken über die REITKUNST, deren Kunst war es, oben zu bleiben. Das hat sich allerdings bis in die heutige Zeit hinein gehalten. Mit zunehmender Nutzung der Pferde als Reittiere und einem höheren Domestizierungsgrad begannen sich einzelnen Menschen etwas mehr Gedanken über die Pferde und deren Ausbildung zu machen. Xenophon (430 v.Chr. – 354 v.Chr.) sei hier exemplarisch erwähnt, obwohl es sicherlich vor ihm auch schon Reiter gab, die sehr langsam begannen an dem zu entwickeln, was man nun durchaus mit der Überschrift REITKUNST versehen kann. Zu Xenophon sei angemerkt, dass er in der „Pferdeliebe“, die man ihm heute nachsagt, völlig überschätzt. Aber gegenüber den, nur draufspringenden und lospreschenden „Reitern“, denen ein Pferd im Falle seiner Vernichtung immer noch als Nahrungsmittel dienen konnte, war dies schon ein erster guter Entwicklungsschritt.

Der Italiener Grisone (1507 – 1570), dem man nachsagt Xenophon in der ersten lateinische Übersetzung von Camerarius aus dem Jahr 1537 gelesen zu haben, versuchte hier weiterzuentwickeln. Die Methoden, welche man als experimentell bezeichnen muss, waren sicherlich zum Teil extrem brutal (man kennt vielleicht das Bild von Grisone, wo er ein Pferd in extremer Rollkur reitet – als Beispiel), aber man wußte es einfach noch nicht besser und tastete sich vor.

Die christliche Glaubenslehre, die den Menschen über alle anderen Lebewesen stellt,  trug sicherlich auch dazu bei, dass man nicht zwingend bestrebt war, immer gleich zu versuchen das feinste Mittel zu finden. Auch waren die Pferde – auch wegen der rüden Behandlungen, der Aufstallungen etc. – sicherlich nicht immer ganz ungefährlich. 

Salomon de Broue (1530 – 1610) ein Schüler von Giovanni Pignatelli (1540 – 1600), der wiederum ein Schüler von Grisone war, versuchte nun an vielen Stellen bereits die eine oder andere „feinere“ Methodik, hing aber immer noch der neapolitanischen Gewaltschule an und brachte diese nach Frankreich.

Die REITKUNST entwickelte sich und die Brutalitäten in Methoden und Handeln wurden weniger. Namen wie Antoine de Pluvinel (1552 – 1620), William Cavendish, der 1. Herzog von Newcastle (1592 – 1676) und schließlich François Robichon de la Guérinière (1688 – 1751) trugen hier, die REITKUNST entwickelnd, viel dazu bei. Man hatte inzwischen einfach schon deutlich mehr Wissen (Wo Wissen fehlt – regiert die Gewalt).

Eine weitere, zunächst letzte, aber umso mächtigere Entwicklung, erfuhr die REITKUNST, hin zu einer immer feineren, effizienteren Form, durch die preußischen Stallmeister zur Zeit Friedrichs des Großen und darüber hinaus noch bis etwas zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Diese Stallmeister, zum Teil im Range von Professoren, welche Hippologie an Universitäten lehrten, gingen die Pferdeausbildung höchst wissenschaftlich an. Nie vorher in der Geschichte wußte man mehr über Pferde, deren Verhalten und einer feinen und hochqualifizierten Pferdeausbildung wie bei den alten Preußen des 18. und auslaufend bis Mitte 19. Jahrhundert.

Dennoch hatten auch diese Stallmeister den GRALSWEG noch nicht vollständig beschritten. Es gab noch etwas, wenn auch nur sehr wenig, Entwicklungspotenzial zu noch mehr Feinheit.

Jedoch gab es ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine schwerwiegende Zäsur. Jene schon zu Zeiten des Herzogs von Newcastle und wahrscheinlich schon davor sehr beliebte und von England ausgehende, Jagdreiterei, fand immer mehr Anklang auf dem Kontinent. Ein Grund für die nahezu schlagartige Verbreitung, welche Jagd- und damit auch die Sport- und Geländereiterei, ab Mitte des 19. Jahrhunderts fanden, darf auch auf Veränderungen im Verwendungszweck der Kavallerie zurückgeführt werden.

Für diese, auf Grund ihres Ursprungs, als ANGLOMANE REITEREI (Englisch Reiten) bezeichnete Form des Reitens, zählte ein Pferdeleben nicht besonders viel. Mit ihr kehrte man wieder in eine Zeit der Naturreiterei zurück, für welche REITKUNST keine Rolle spielte und die Kunst der Ausübenden eben lediglich darin bestand im Sattel zu bleiben. Genau diese Reiterei haben wir auch heute noch. Die Dressurreiter (beispielsweise) heutiger Zeit haben von REITKUNST nicht die geringste Ahnung, sie lernen oben zu bleiben und ihre Pferden müssen die Lektionen „auswendig“ lernen – mehr ist da nicht, von Springreitern will ich gar nicht erst reden!

Die ANGLOMANE REITEREI, für die Pferdeleben und -gesundheit nichts zählt, hat auch jeden Feinheitsgrad wieder verdrängt und Rohheit und Brutalität den Pferden gegenüber Tür und Tor geöffnet.  

Alle sogenannten Reitmeister der Neuzeit sind nur Nachahmer, die nichts zur Entwicklung der REITKUNST beizutragen haben. Deren Verdienst aber liegt darin, dass sie zumindest versuchen etwas von dem Wissen der Vergangenheit gegen einen Tsunami der Inkompetenz und Gedankenlosigkeit zu stellen, was man hoch anrechnen muss.

Die REITKUNST und ihre wenigen (wissenschaftlichen) Entwickler, kann man durchaus unter einem Begriff subsummieren, denn REITKUNST musste sich entwickeln. Dabei immer aufbauend auf dem Wissen der Vergangenheit (und sei dieses vielleicht auch noch so brutal gewesen).

Meine LEHRE VOM GRALSWEG stellt zwar den Kulminationspunkt dieser Entwicklung dar, aber steht auf den Schultern all jener, wenigen (NACH)DENKENDEN REITER der Vergangenheit, welche zur Entwicklung einer der großartigsten Künste beigetragen haben: DER REITKUNST.


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Ein Konter dem Konterschulterherein

Auszug aus dem Arbeitspapier der LEHRE VOM GRALSWEG

X.1. | Grundsätzliches

X.1.1. | Der Begriff KONTERSCHULTERHEREIN ist im Grunde irreführend, da die Form, in der das Pferd geritten wird, dem eines SCHULTER(N)HEREINS[1] entspricht, vor allem dann, wenn es als KONTERSCHULTERHEREIN GEGEN EINE BEGRENZUNG [X.2.2. ] auf gerader Linie ausgeführt wird. Lediglich das KONTERSCHULTERHEREIN AUF GEBOGENER LINIE (Volte, Zirkel) [X.2.3. ] unterscheidet sich von einem normalen Schulter(n)herein dergestalt, dass die Hinterhand einen kleineren Kreis als die Vorhand beschreiten muss und diese dadurch stärker in die Beugung gezwungen werden könnte[2]. Wie beim Schulter(n)herein kreuzen (Hinterhand) bzw. schränken (Vorhand) auch beim Konterschulterherein beide Beinpaare.

X.1.2. | Das KONTERSCHULTERHEREIN in seinen beiden Varianten gehört nach meiner LEHRE VOM GRALSWEG zu den BEWEGUNGEN IN GEBOGENER FORM DES PFERDES (siehe Bild).

Bei dieser Form ist die Körperlängsachse des Pferdes (Schweifrübe bis Widerrist) gerade[3], die Schultern werden leicht schräg von der Körperlängsachse nach innen[4] gestellt (KP1). Der Hals kommt gerade und zu den Schultern parallel aus diesen heraus. Im Genick-Ganaschenbereich (KP2) wird das Pferd ebenfalls leicht nach innen gestellt, dabei sollte die Nase nicht über eine gedachte Verlängerungslinie der Schultern nach vorne hinausgehen[5].

X.1.3. | Die Regeln der Hilfengebung beim KONTERSCHULTERHEREIN entsprechen vollständig denen des SCHULTER(N)HEREIN.

X.1.4. | Um das KONTERSCHULTERHEREIN grundsätzlich in Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit beurteilen zu können, ist vorab ein wichtige Fragestellung zu klären, die da lautet: Muss ein Pferd den Bewegungsablauf des SCHULTER(N)HEREIN überhaupt erlernen? Häufig wird dieses „Erlernen“ als (Teil)begründung für die Anwendung des Konterschulterherein angeführt. Die Antwort nach der LEHRE VOM GRALSWEG ist ein kategorisches NEIN!

X.1.4.1. | Das SCHULTER(N)HEREIN ist eine technische Bewegung, bei der das Pferd körperlich positioniert (BEWEGUNGEN IN GEBOGENER FORM DES PFERDES) und durch Reduzieren des Vorgriffs des äußeren Vorderbeins (HALBE PARADE) die Vorwärtsbewegung in die nötige Seitwärtsbewegung gebracht werden kann. Dies ist alleine über den korrekten Sitz und die korrekte Hilfengebung nach meiner LEHRE VOM GRALSWEG möglich und entbindet damit das Pferd vom „Erlernen“ des Schulter(n)herein. Lediglich bei Pferden die am Beginn ihrer Ausbildung stehen oder die verritten wurden und korrigiert werden müssen, mögen die Bewegungen während der ersten Ausführungen noch etwas ungelenkig ausfallen[6], dennoch werden auch diese Pferde zu einem mehr oder weniger gutem Schulter(n)herein geformt und geführt werden können.

X.1.4.2. | Nicht das Beibringen des Schulter(n)herein, was damit als Begründung für das KONTERSCHULTERHEREIN entfallen kann, ist deshalb die Aufgabe des Reiters, sondern die qualitative Verbesserung des Schulter(n)herein, hin zur maximal möglichen gymnastischen Wirkung bei geringster Belästigung des Pferdes!

X.2. | Varianten des Konterschulterherein

X.2.1. | Allgemein

X.2.1.1. | Grundsätzlich kann man von zwei Arten des KONTERSCHULTERHEREIN sprechen. Diese unterscheiden sich in ihrer Ausführung und Wirksamkeit durchaus deutlich. Diese beiden Varianten sind: KONTERSCHULTERHEREIN GEGEN EINE BEGRENZUNG (Bande) und KONTERSCHULTERHEREIN AUF GEBOGENER LINIE (Volte, Zirkel). 

X.2.2. | Gegen eine Begrenzung

Bei der 1. VARIANTE, dem KONTERSCHULTERHEREIN GEGEN EINE BEGRENZUNG, welche sich großer Beliebtheit erfreut, wird das Pferd mit der Nase zu einer Begrenzung, i.d.R. eine feste Bande, gestellt und im Schulter(n)herein gegen diese geritten.

X.2.2.1. | Die Intensionen, die zum KONTERSCHULTERHEREIN GEGEN EINE BEGRENZUNG führen, sind zweierlei. Einerseits soll das Pferd auf diesem Wege das Schulter(n)herein erlernen, was es nach meiner LEHRE VOM GRALSWEG überhaupt nicht nötig hat [X.1.4.]  und andererseits erwartet man, durch das gegen die Begrenzung arbeiten, ein stärkeres Untersetzen und Beugen der Hinterhand.

X.2.2.2. | Dem Reiter wird das Arbeiten im Schulter(n)herein beim KONTERSCHULTERHEREIN GEGEN EINE BEGRENZUNG dadurch erleichtert (Vorteil), dass durch die Begrenzung dem Pferd die HAUPTBEWEGUNGSRICHTUNG (Vorwärts) verschlossen bleibt und der Reiter so in der Lage ist, das Pferd leichter in eine Seitwärtsbewegung zu nötigen. Ich schreibe hier ganz bewusst von Nötigung, denn nichts anderes ist es!

X.2.2.3. | Grundsätzlich sei angemerkt, dass es sich beim KONTERSCHULTERHEREIN GEGEN EINE BEGRENZUNG lediglich um ein ganz normales Schulter(n)herein auf gerader Linie handelt, welches aber durch die Begrenzung vor der Nase des Pferdes zu einer Vielzahl von Nachteilen im Vergleich zur normalen Variante führt, welche manche der, oft zur Begründung dieser Variante des Konterschulterherein angeführten Vorteile, in Gänze aufwiegen.

X.2.2.3.1. | Das Pferd wird beim KONTERSCHULTERHEREIN GEGEN EINE BEGRENZUNG massiv in Zwang gesetzt – vorne die Begrenzung, hinten die Beine des Reiters. Dies führt dazu, je nach Fähigkeit des Reiters und damit abhängig von der Qualität der Ausführung, dass die Pferde, mehr oder weniger stark über die äußere Schulter und/oder Kruppe in die Seitwärtsbewegung fallen. Dadurch entstehen starke ungleiche Belastungen, verbunden mit der Gefahr struktureller Schädigungen (Gelenke, Sehnen, Bänder, Muskeln …), vor allem dann, wenn das Pferd dabei zu schnellen Bewegungen genötigt wird.

X.2.2.3.2. | Das Arbeiten im KONTERSCHULTERHEREIN GEGEN EINE BEGRENZUNG versetzt das Pferd in einem sehr hohen Maße unter starken körperlichen Stress, dieser ist verbunden mit einem hohen Energieverbrauch, was wiederum einen schnelleren Leistungsabfall zur Folge hat.

X.2.2.3.3. | Die genannten Stressoren beim KONTERSCHULTERHEREIN GEGEN EINE BEGRENZUNG bewirken zu den rein körperlichen Auswirkungen, des Weiteren noch ein deutliches Abfallen der Lernkurve, was die Ausbildungszeit verlängert (Ineffizienz).

X.2.2.4. | Da das Pferd grundsätzlich das SCHULTER(N)HEREIN nicht erlernen muss, sondern dieses vom Sitz und der korrekten Hilfengebung des Reiters nach der LEHRE VOM GRALSWEG abhängig ist, gleichzeitig aber die körperlichen Stressfaktoren und die Gefahr struktureller Schädigungen beim Pferd hoch sind, kann das KONTERSCHULTERHEREIN GEGEN EINE BEGRENZUNG (insbesondere in erhöhtem Tempo) in keinster Weise empfohlen werden!

X.2.2.5. | HISTORISCHER ABRISS | De la Guérinière schrieb 1733 über das Arbeiten eines Pferdes gegen eine Begrenzung zum Zwecke diesem das Seitwärtsgehen zu lehren, folgende Worte:

Diejenigen, die den Kopf eines Pferdes an die Mauer stellen, um es zur Seite gehen zu lehren, verfallen in einen Fehler, dessen nachtheilige Folgen sich leicht zeigen lassen. Auf diese Art lernt es eher aus Gewohnheit, als auf die Hülfen der Hand und Schenkel, gehen, und wenn man es von der Mauer wegnimmt, und in der Mitte der Reitbahn zur Seite richten will, wo es keinen Gegenstand mehr hat, der ihm  alsdann zum Gesichtspunkte dient, so gehorcht es nur unvollkommen der Hand und dem Schenkel, welches denn doch die einzigen Wegweiser sind, deren man sich zur Führung eines Pferdes in allen seinen Gängen bedienen darf. Ein anderer Nachtheil, der aus dieser Schule entspringt, ist: daß das Pferd, anstatt den äussern Schenkel über den innern zu setzten, öfters denselben aus Furcht, entweder den auf der Erde stehenden Schenkel mit dem Eisen zu treten, oder aber mit dem Knie [Karbalgelenk – Anm.d.Red.]  in dem Zeitpunkt gegen die Mauer zu stoßen, wenn es den Schenkel hebt, und denselben über den andern zu setzten, vorwärts führt, darunter wegsetzt.[7]

Auch de la Guérinière ging wie alle (bekannten) Meister (siehe auch de la Broue im Folgenden) und Reiter nach ihm, von der Fehlannahme aus, dass man den Pferden das SCHULTER(N)HEREIN (respektive das Seitwärtsgehen) lernen müsse. Die Vorgehensweisen der LEHRE VOM GRALSWEG widerlegen diese Annahme. Lediglich der korrekte Sitz und die korrekte Hilfengebung nach meiner Lehre, reichen aus, das Pferd von Anfang an in einer Schulter(n)herein-Bewegung gehen zu lassen. Nur die Qualität der Ausführung wird mit fortschreitender Übung durch Verbesserung der Körperlichkeit beim Pferd zunehmen.

Klar weist de la Guérinière allerdings auf die Problematiken hin und ergänzt diese in seinem Werk auch noch mit Aussagen von de la Broue[8]:

Herr de la Broue ist dieser Meinung, wenn er den Rath giebt, daß man, um Pferde zum Schenkelweichen zu bringen, nur bei solchen von der Mauer Gebrauch machen müsse, die in der Hand liegen, oder hineinziehen. Weit entfernt aber, den Kopf so nahe an der Mauer zu stellen, sagt er, müsse man das Pferd zwei Schritte diesseits der Mauer halten, welches ohngefähr eine Entfernung von fünf Schuhen[9] [1,625 m – Anm.d.Red.] , von dem Kopf des Pferdes bis zur Mauer ausmacht.[10]

X.2.3. | Auf gebogener Linie

Die 2. VARIANTE, das KONTERSCHULTERHEREIN AUF GEBOGNER LINIE (Volte, Zirkel), bei dem das Pferd den offenen Raum vor sich hat und die Hinterhand einen kleineren Kreis als die Vorhand beschreiten muss, weißt – auch bei korrekter Ausführung[11] – gegenüber dem SCHULTER(N)HEREIN keinen zusätzlichen Nutzen auf, welcher nicht durch Nachteile für das Pferd erkauft werden müsste.

X.2.3.1. | Das KONTERSCHULTERHEREIN AUF GEBOGNER LINIE kann sowohl auf einem Zirkel, als auch auf einer Volte geritten werden. Wichtig dabei ist, dass die Hinterhand in einer guten Vorwärtsbewegung bleibt. Keinesfalls darf sie auf der Stelle „hüpfen“. Ist dies der Fall, dann ist die Volte zu klein angelegt und/oder die Zügeleinwirkungen (z.B. HALBE PARADEN) erfolgten zu hart.

X.2.3.2. | Durch das KONTERSCHULTERHEREIN AUF GEBOGENER LINIE kann ein stärkeres Kreuzen (Schränken) der Vorhand und damit ein vermehrtes Entbinden der Schultern gefördert werden. Wichtig dabei ist, wie generell bei BEWEGUNGEN IN GEBOGENER FORM DES PFERDES, das das äußere Vorderbein des Pferdes eine Vorwärts-Seitwärtsbewegung erhält und nicht seitlich kippt. Dies kann im Konterschulterherein auf gebogener Linie nur bei vier gleichen Hufabständen einigermaßen sicherzustellen werden.

X.2.3.3. | Beim KONTERSCHULTERHEREIN AUF GEBOGENER LINE beschreibt die Hinterhand einen kleineren Kreis als die Vorhand. Dadurch treten die Hinterbeine kürzer und das Pferd kippt vermehrt über die äußere Kruppe. Dies widerspricht dem grundsätzlichen Prinzip des Schulter(n)herein, nach dessen Definitionen durch das Einkreuzen des inneren Hinterbeins die äußere Schulter des Pferdes angehoben werden solle. Dieses Kippen über die äußere Kruppe lässt sich auch bei korrekter Form des Pferdes nach dem Prinzip der BEWEGUNGEN IN GEBOGENER FORM DES PFERDES nicht verhindern.

X.2.3.4. | Dies zusammengenommen macht auch das KONTERSCHULTERHEREIN AUF GEBOGENER LINE zu einem schwierigen Unterfangen und kann bei fehlerhafter (in der Masse der Fälle wahrscheinlicher) Ausführung, die Gesundheit des Pferdes durchaus stark beeinträchtigen. Der mögliche Nutzen steht dazu in keinem sinnvollen Verhältnis, so dass auch diese Variante des KONTERSCHULTERHEREIN nicht empfohlen werden kann[12]!

X.3. | Zusammenfassung

X.3.1. | KONTERSCHULTERHEREIN kann in zwei unterschiedlichen Varianten ausgeführt werden. Diese sind: KONTERSCHULTERHEREN GEGEN EINE BEGRENZUNG und KONTERSCHULTERHEREIN AUF GEBOGENER LINIE.

X.3.2. | Damit KONTERSCHULTERHEREIN Sinn macht, muss es zumindest dem SCHULTER(N)HEREIN in seinem Nutzen gleichwertig, in einzelnen Elementen (zum Zwecke der Korrektur) einen besonderen Nutzen bringen oder ein Lerneffekt für das Pferd gegeben sein.

X.3.3. | Bei keinen der beiden Varianten des KONTERSCHULTERHEREINS ist auch nur annähernd ein Nutzenvorteil gegenüber dem SCHULTER(N)HEREIN gegeben. Im Gegenteil, die Risikofaktoren für die Gesundheit des Pferdes überwiegen bei Weitem manch genannten, vermeintlichen Nutzens.

X.3.4. | Das Pferd muss ein korrektes SCHULTER(N)HEREIN nicht erlernen. Über den korrekten Sitz und der korrekten Hilfengebung nach meiner LEHRE VOM GRALSWEG kann jedes Pferd Schulter(n)herein gehen, wobei sich die Qualität der Ausführung durch stetes Üben mehr und mehr verbessert – bis hin zum maximal möglichen gymnastizierungstechnischen Effekt. Ein KONTERSCHULTERHEREIN zum Zwecke des Erlernens desselben ist nicht notwendig.

X.3.4. | RESÜMEÉ | Im Sinne der Ausbildungseffizienz und der geringstmöglichen Belästigung sowie potenzieller Gesundheitsschädigung des Pferdes kann nach meiner LEHRE VOM GRALSWEG keine der beiden Varianten empfohlen werden! Das Erlernen des korrekten Sitzes und konzentriertes, diszipliniertes Arbeiten im SCHULTER(N)HEREIN stellt für Reiter und Pferd die bedeutend sinnvollere und effizientere Vorgehensweise dar!

X.3.5. | SCHLUSSBEMERKUNG | Aus den aufgeführten Gründen wird KONTERSCHULTERHEREIN in der LEHRE VOM GRALSWEG nicht als SCHULE geführt, sondern lediglich der Vollständigkeit halber erwähnt.


Autor: Richard Vizethum | Schule der Hippologie | Auszug aus der LEHRE VOM GRALSWEG


[1] Das Schulter(n)herein im klassischen Sinne ist immer ein 4-spuriges Schulterherein entgegen der 3-spurigen Variante der FN/FEI, bei dem die Hinterhand keine Kreuzbewegung ausführt. In der „Richtlinie für Reiten und Fahren“ entspricht das sogenannte SCHENKELWEICHEN in etwa dem klassischen und weitaus sinnvolleren 4-Spur-Schulter(n)herein. Wobei, dies sei auch hier angemerkt, das FN-Schenkelweichen nicht dem klassischen Schenkelweichen entspricht, welcher in meiner LEHRE VOM GRALSWEG vermittelt wird.

[2] Je kleiner der gerittene Kreis, desto stärker könnte die Beugung der Hinterhand ausfallen. Ich betone hier bewusst „könnte“, denn es bedarf beim Pferd bereits ein hohes Maß an der Fähigkeit seine Hinterhand vorzusetzen und zu beugen (die bei den allermeisten Pferden so gut wie nicht gegeben ist). Auch muss die Hilfengebung des Reiters perfekt sein. Ist dies nicht sichergestellt, so ist die Gefahr der gesundheitlichen Schädigung des Pferdes relativ hoch.

[3] Die Körperlängsachse ist im Bereich der Wirbelkörper weitestgehend gerade. Lediglich durch die Rotation nach innen-unten, entsteht der Eindruck eines, auch in diesem Bereich gebogenen Pferdes.

[4] Innen wird immer definiert über die Seite des Pferdes, welche wir hohl stellen.

[5] Geht die Nase über diese Verlängerungslinie hinaus, wird das Gewicht des Kopfes, welches über die Linie hinausgeht, nicht mehr von den Vorderbeinen abgestützt und das Pferd neigt sich in diese Richtung. Um dies zu kompensieren wird es eine Ausgleichsbewegung nach Außen, über die äußere Schulter ausführen – d.h. über die äußere Schulter laufen.

[6] Das noch untrainierte oder schlecht ausgebildete Pferd kennt seine Hinterhand von Natur aus nicht und lernt sie erst durch Bewegungen, wie beispielsweise dem Schulter(n)herein kennen. Aus diesem Grund können zu Beginn der Arbeit am Schulter(n)herein die Bewegungen des Pferdes noch sehr ungelenkig ausfallen, was sich aber bei konsequenter, disziplinierter Arbeit schnell ändert.

[7] Francois Robichon de la Guérinière | „Reitkunst“ | dt. Übersetzung von J. Daniel Knöll 1817 |Verlag Olms | Seite 197

[8] Dieser Verweis auf Salomon de la Broue (1530 – 1610) lässt einen interessanten Rückschluss bezüglich des SCHULTER(N)HEREIN (auf gerader Linie) zu, dessen „Erfindung“ man de la Guérinière auf Basis der Vorarbeit durch William Cavendish, dem 1. Herzog von Newcastle (1592 – 1676) auf Volte, zuschreibt. Explizit wird in der deutschen Übersetzung bei der Arbeit von de la Broue gegen eine Begrenzung von SCHENKELWEICHEN gesprochen, tatsächlich aber dürfte es bereits ein KONTERSCHULTERHEREIN gewesen sein und dieses auf gerader Linie. Dies würde bedeuten, dass der Bewegungsablauf des Konterschulterherein und damit auch des Schulter(n)herein auf gerade Linie bereits lange vor de la Guérinière bekannt gewesen sein dürfte.

[9] Schuh = Fuß = Pariser Fuß = 0,325 m

[10] Francois Robichon de la Guérinière | „Reitkunst“ | dt. Übersetzung von J. Daniel Knöll 1817 |Verlag Olms | Seite 197f

[11] Schultern dürfen nicht fallen!

[12] Lediglich in KORREKTUR-Notwendigkeiten (Öffnen, Entbinden der Schultern des Pferdes) kann man das KONTERSCHULTERHEREIN AUF GEBOGENER LINIE in sehr kurzen Reprisen nutzen. Dabei ist bei der Ausführung ein besonderes Augenmerk auf vier gleiche Hufabstände zu richten.