Den Begriff des DENKENDEN REITERS prägte einst einer der vortrefflichsten Oberbereiter der Hofreitschule zu Wien, Max Ritter von Weyrother (1783-1833). Auch wenn viele Pferdemenschen diese Betitelung für sich in Anspruch nehmen und sich gerne als einen solch „denkenden Reiter“ sehen wollen, so sind es in der Geschichte der Reiterei in Wahrheit nur sehr, sehr wenige, denen dieser Titel zustehen würde. Es ist jener kleine Kreis von STALLMEISTERN, die die Reiterei wahrhaftig voran gebracht haben.
Da des Denkens durchaus viele Menschen fähig sind, diese Fähigkeit aber nicht annähernd die geistige Leistung eines DENKENDEN REITERS, nach meinem Verständnis erreicht, und die Seltenheit derselben zum Ausdruck bringt, werde ich im Folgenden anstelle der Begrifflichkeit DENKENDER REITER den zutreffenderen Begriff des (NACH)DENKENDEN REITERS gebrauchen.
DENKEN ist das HANDWERK – NACHDENKEN die KUNST!
Der (NACH)DENKENDE REITER, von wahrer Leidenschaft beseelt, macht sich SEINE Gedanken und lebt nicht nur von den Gedanken und Wissensbruchstücken Anderer, gleichwohl er diese auch weiter- und überdenkend nutzen wird.
Das Wissen des (NACH)DENKENDEN REITERS basiert auf den Gedanken und den Kenntnissen anderer (NACH)DENKENDER REITER vor ihm. Darüber hinaus nutzt er seine, durch große Erfahrung entwickelten Fähigkeiten zur genauen Beobachtung und sein ausgeprägtes Gespür für Zusammenhänge, um zum Kern von Problemen zu dringen und passende Lösungen zu erarbeiten. Er beschäftigt sich dabei forschend mit der ganze Band-breite der Wissenschaften.
Er bleibt, in dem Wissen, dass Lernen niemals endet, nie stehen und geht seinen Weg, auch wenn dieser oft voller Hindernisse und Widerstände ist. Das alles nur, um die REITKUNST – vor allem zum Wohle der Pferde – stetig weiterzuentwickeln und diese in immer feinere, effizientere Sphären zu heben.
„Wie bedauernswürdig sind nicht Lehrbegierige, die in einer Gegend wohnen, wo die Wissenschaften fremd, die Kenntnisse dunkel, die Genies matt sind, wo der Eifer zur Gelehrtheit schläft und unemfindlich ist, und wo mit einem Wort, alle glückliche Neigungen zu schönen Künsten und Wissenschaften, unter der Decke der Unwissenheit ersticken müssen! “[1]
(Freiherr von Sind – 1786)
(NACH)DENKENDE REITER haben es in Zeiten einer allgemeinen Verdummung, grassierender Ignoranz und selbstüberschätzender Anmaßung schwer, ihr Wissen zu transportieren, sind ihre Botschaften doch oft keine leichte Kost und stören so manches eingeschränkte und liebgewonnene reiterliche aber auch gesellschaftliche Weltbild.
Doch ein wahrhaft Lernbegieriger wird sich dankbar und demütig zeigen, sollte er das außergewöhnliche Glück haben, von einem (NACH)DENKENDEN REITER lernen zu dürfen. Er wird dessen Wissen aufsaugen, um sich selbst mit wachem Geiste auf jenen schweren, steinigen und dornenreichen Weg zum GRAL zu machen. Einem Weg, der sein Leben fast zur Gänze ausfüllen wird. Einen Weg, der seine ganze Leidenschaft und Hingabe erfordert. Einen Weg, der ihn, so er nicht aufgibt und stets vorwärts geht, vielleicht mit der Würde, aber auch Bürde belohnt, selbst in den kleinen Kreis der (NACH)DENKENDEN REITER aufgenommen zu werden.
Doch am Ende seiner Tage wird auch er mit der Selbst-erkenntnis von der Bühne des Lebens abtreten, dass das Ende des Weges auch durch seine Arbeit und sein Lehren vielleicht doch noch nicht vollständig erreicht werden konnte.
Der ZWEIFEL ist die Triebfeder aller wahrhaftigen WISSENSCHAFT!
Er kann dann nur hoffen, dass er das Privileg hatte, einem lernbegierigen Schüler, seine Leidenschaft und sein Wissen weitergeben zu haben, auf das dieser dem WEG des GRALS, ebenso wie er, sein Leben widmet.
[1] Freiherr von Sind |“Vollständiger Unterricht in den Wissenschaften eines Stallmeisters“ | 1786 | gedruckt bey Johann Thomas Edlen von Trattnern | Seite 4
Autor: Richard Vizethum | Der letzte Stallmeister | (Nach)denkender Reiter | Schule der Hippologie
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